Werke von Raimunde Grave

 

Autorin: Anke Schmich

 

Das Œuvre der Essener Künstlerin Raimunde Grave zeigt sich formal äußerst vielfältig und inhaltlich komplex.

 

Ihre Malerei lässt sich in Landschaften, menschliche Portraits und Puppenstillleben unterteilen.

 

Die expressiven Landschaften zeigen in leuchtender Farbigkeit Meeresufer, die lockeren, unregelmäßigen Übergänge vom festen Land zum Wasser üben dabei einen besonderen Reiz auf das Auge des Betrachters aus.

In einigen Bildern fehlt ein Horizont, was die Ausschnitthaftigkeit des Strandabschnittes betont; in anderen ist die Horizontlinie im oberen Sechstel der Leinwand angesiedelt und suggeriert damit eine unendlich scheinende Weite.

Wieder andere Werke thematisieren ausschließlich Wolkenformationen in zum Teil rosa-rot glühenden Kompositionen, abstrahieren ein „Stück vom Himmel“, in dem die Stimmung des Morgen- und des Abendrots eingefangen wird.

 

In extremen Querformaten (30 x 90 cm und 40 x 120 cm) bündelt die Künstlerin ihre Impressionen in Panoramaansichten, die einen Eindruck von den Küstenlandschaften Ostfrieslands wiedergeben.

 

Die Portraits erinnern stilistisch in ihrer Expressivität zum Teil an Paula Modersohn-Becker und Emil Nolde oder auch Oskar Kokoschka.

 

Ihre Grafiken der 140 Handy-Selbst-Portraits aus den Jahren 2008-2011, die die Künstlerin aus ihrem Handy-Display mit Bleistift auf Papier im Format 15 x 21 cm zeichnete, präsentiert sie in serieller Reihung schwarzer Rahmen (21 x 27, 5 cm) als wandfüllendes All-Over.

Das Grafik-Konvolut in einheitlicher Rahmung erinnert in seiner optischen Wirkung stark an die Präsentation der Fleißarbeiten der handschriftlich dokumentierten Zahlenfolgen Hanne Darbovens. Auch intentionell kann man inhaltliche Parallelen verorten, spiegelt sich doch in dem Wandel der Selfies die fortschreitende Zeit und der immerwährende Wandel des Lebens. Beiden Vorgehensweisen liegt die subjektive Erfahrung der Vergänglichkeit der Zeit zugrunde.

 

Das Mysterium und die Magie der Dinge an sich inspirieren die Künstlerin immer wieder aufs Neue. Voller surrealer Geschichten und Traumwelten zeigen sich die Grafiken der Künstlerin im

Din A2 –Format, aus denen heraus sie teilweise auch Motive für ihre Installationen aufgreift und als künstlerische Objekte in „handfesten“ Materialien realisiert, sodass sie für den Betrachter im wahrsten Sinne des Wortes „greifbar“ werden und somit auch eine haptische Qualität erhalten.

 

Ihnen stilistisch nicht ganz unähnlich, aber inhaltlich sehr viel harmloser und kindgerechter erscheinen ihre Buchillustrationen für Kinder.

 

Nicht jugendfrei zeigen sich hingegen die erotischen Grafiken in Aquarell-Technik, die die Künstlerin auf recht ungewöhnliche Bildträger wie z.B. Herrentaschentücher setzt. Dass es sich dabei um die serielle Darstellung des immer zentral ins Bild gesetzten weiblichen Geschlechts handelt, macht die formale und gedankliche Verbindung zum Herrentaschentuch äußerst delikat.

 

Voller Humor – öfter auch mit ironischen Spitzen versehen – verarbeitet Raimunde Grave alles, was sie aus den sie umgebenden Medien wie Zeitung, Fernsehen und Internet zur gedanklichen Reflexion animiert.

Auch aus ihrer analogen Umwelt greift sie beispielsweise bei einem Cafébesuch die von ihr zufällig wahrgenommenen Gespräche anderer Leute auf und verarbeitet diese inhaltlich in ihren Werken, die die Gefühle und Zwiespälte dieser Personen visualisieren.

 

 

 

Ihre Objekte wie zum Beispiel die genähten „Schmerzkörper“ oder die „Würmer“ erinnern an die Werke der französisch-US-amerikanischen Bildhauerin Louise Joséphine Bourgeois

(* 25.12.1911 in Paris; † 31.05.2010 in New York City), die sich zu ihrer Zeit sehr früh mit Installationen auseinandersetzte.

Da Bourgeois Familie eine Galerie für historische Textilien betrieb und auch eine Werkstatt zum Restaurieren der alten Stoffe unterhielt, war für sie die Verwendung von Stoffen in ihrer künstlerischen Arbeit nur folgerichtig.

So auch für Raimunde Grave, die sich in ihren Objekten und Installationen auf ihr handwerkliches Geschick in der Bearbeitung von Textilien besann und sich fortan darauf konzentrierte. Das zentrale Motiv in ihrer künstlerischen Arbeit ist die Visualisierung von Schmerz, der personenspezifisch individuell erlebbar ist.

 

Die tiefgreifenden Zusammenhänge und Abhängigkeiten der menschlichen Psyche im Allgemeinen zu verstehen, ist eine ihrer Intentionen.

Sie entlarvt auf subtile Weise Ursache und Wirkung und versucht, mögliche kreative Formen und Wege einer Heilung zu beschreiben.

Dass die Thematisierung fremdbiografischer Elemente und problematischer, zum Teil traumatischer Beziehungskonstellationen zu den zentralen Themen ihrer künstlerischen Arbeit zählt, wird an ihren zahlreichen Text-(il)-Installationen offensichtlich.

Die genähten Textfragmente nähern sich beispielsweise der Borderline – Problematik oder dem Verlust der menschlichen Würde, Liebe und Zuneigung, um nur einige zu nennen.

 

Diese komplexe, für den Rezipienten oft schwer verdauliche Inhaltlichkeit chiffriert die Künstlerin in Wort und Text auf zum Teil banalen Materialien wie Tischtüchern, Taschentüchern, alten Hemden, etc.

Die atmosphärische Dichte ihrer Texte und Gedichte resultiert oft aus der Offenlegung tief verwurzelter psychologischer Strategien und Obsessionen, die sich traditionell in den geschlechterspezifischen Rollenstrukturen manifestiert haben.

Mit dem bewussten Aufbrechen  einzelner Wortgebilde oder Satzfragmente konterkariert die Künstlerin die gewöhnliche Logik der Aussage und führt das formal gebräuchliche genderspezifische Vokabular ad absurdum.

 

Auch ihre Objekt – Arbeiten verlangen nach geistigem Freiraum, da sie voller individueller Symbolik und Assoziationen stecken.

 

Objets trouvés, wie das beeindruckende Raubvogel-Präparat eines Bussards mit gespreizten Flügeln, das in ihrem Atelier hoch oben an der Wand auf einem Ast platziert ist, unterstreichen den naturverbundenen Charakter ihrer Arbeiten.

Das von der Künstlerin gehäkelte Mützchen aus türkisfarbener Baumwolle, das dem Vogel wie eine Falkenhaube über Kopf und Hals gestülpt wurde, erinnert an die Beizjagd, eine traditionelle Form der Nutztierhaltung, der in früherer Zeit manchen Wüstenvölkern eine spirituelle Verbindung von Falkner und Raubvogel nachgesagt wurde.

Die Künstlerin hat den rechten Fang des Tieres und den Ast mit der Restwolle umgarnt und lässt die Fäden mit dem Knäuel locker herunterfallen. Die Leichtigkeit des ersten Eindrucks und die Verspieltheit der Inszenierung täuschen jedoch: verheddert im Zivilisationsmüll wird das stolze Tier zum "Spielball" und Opfer des Menschen, der den Respekt vor der Natur verloren hat und mit seinem unbedachten Handeln alles zu zerstören droht.
Raimunde Grave stellt hier mit dem Titel "Natürlich Natürlich“ die Frage nach unserem Verhältnis und Verständnis von Natürlichkeit und Natur.


 

Ihre Konzeptkunst irritiert bisweilen, da die Auseinandersetzung mit diesen Kunstwerken eine freie und vorurteilslose Herangehensweise erfordert.

Die meisten sexualisierten Formen im Werk von Raimunde Grave sind eindeutig jeweils geschlechterspezifisch als männlich oder weiblich zu kategorisieren, so zum Beispiel die aus Stoffen zusammengenähten Geschlechtsteil-Objekte der überdimensionalen magenta-rosa-farbenen „Vulva-Kissen“ oder die „Plüsch-Pussy“ .

 

Das überdimensionierte Doppelgeschlecht mit dem Titel „Entscheiden heißt verzichten“, bei dem ein Penis aus einer Vulva herauserigiert und die Hoden sich an einer Stange im Vogelkäfig festklammern, entstand aus der Beschäftigung mit der Problematik der angeborenen Doppelgeschlechtlichkeit bei Kleinkindern. Ein Zeitungsbericht informierte über die früher gängige Praxis der frühzeitigen operativen Umwandlung zu einem der beiden Geschlechter, welches bei den betroffenen Kindern oft zu schweren psychischen Traumata führte. Der Vogelkäfig fungiert als Symbol für das Gefängnis des eigenen „falschen“ Körpers, in dem die Seele gefangen bleibt.

 

Unbehagen überfällt den Betrachter eventuell auch, wenn er die Serie mit dem Titel „Ich hatte eine schöne Kindheit“  in den kleinen Objektkästen eingehend betrachtet – die zerstörten Puppen rufen instinktiv bei manchem sicher negative Erinnerungen auf einer tieferliegenden Gefühlsebene hervor. Für die Künstlerin selbst sind die Puppen mit den demolierten Gliedmaßen jedoch mit positiven Lebenserinnerungen besetzt. Die fehlenden oder zerstörten Arme und Beine zeugen vom ausgiebigen Spielen und der Gewissheit, dass die Mutter sich den geliebten Puppenkindern immer wieder mit einfachen Mitteln als Puppenärztin angenommen hat, um ein Fortsetzen des kindlichen Spiels zu ermöglichen.

 

Diese unterschiedlichen Gefühle beim Rezipienten zu evozieren, intendiert die Künstlerin durch die direkte visuelle Konfrontation, die zum Analysieren und Nachdenken zwingt.

Notfalls provoziert sie mit surrealen Objektkonstellationen in Kombination mit der Macht des Wortes.

 

Die Macht des Wortes: Worte sind der wesentlichste Teil ihrer Textilinstallationen, bei denen sie banale Stoffe wie Tischtücher, Kissen, Taschentücher oder ähnliches mit aufgenähten Buchstaben versieht:  Worte, Zeilen, Verse, Aphorismen und Gedichte visualisieren ihre Gedankengänge.

 

Durch die Verwendung der Ich-Form in den Texten täuscht sie eine vermeintliche

autobiografische Darstellung vor, um es dem Betrachter zu ermöglichen, innerlich auf Distanz zu gehen, „seine Emotionen auf die Künstlerin selbst zu projizieren, wodurch seine Auseinandersetzung außerhalb von sich selbst stattfindet“, wie die Künstlerin selbst es formuliert.

Sie will uns nicht attackieren, sondern durch Form, Material und Technik unsere Wahrnehmung sensibilisieren, verborgene Assoziationen wecken und die Perspektive der Betrachtung erweitern.

 

Sie entlarvt mit den Mitteln der Concept Art unsere herkömmlichen Seh- und Denkmuster –

in einer Art, die den Betrachter amüsiert, irritiert, vielleicht sogar verstört, auf jeden Fall aber zum Nachdenken über eigene Sichtweisen anregt.

 

Es handelt sich hier meist um feministisch relevante Themen, gepaart mit Ironie, einer gehörigen Portion Humor und einem Hauch von Subversivität, visuell verpackt in einer uns allen geläufigen Alltagsästhetik.

Diese scheint allerdings von einer Aura aus oft immer noch tabuisierten Genderkonflikten umfangen zu sein.

 

 

 

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